Niklas Luhmann (1927-1998), der von 1968 bis 1993 an der Universität Bielefeld forschte und lehrte, ist neben Max Weber der berühmteste und wirkmächtigste deutsche Soziologe des 20. Jahrhunderts. Luhmanns funktionalistisch orientierte Systemtheorie stellt den konsequenten Versuch dar, auf der Basis der philosophischen Tradition einerseits und der Rezeption der unterschiedlichsten Konzepte der modernen Wissenschaften andererseits die Grenzen der Soziologie so zu erweitern, dass eine angemessene Beschreibung der modernen Gesellschaft möglich wird. Dokumentiert findet sich dieses Forschungsprogramm in einer singulären Publikationsleistung von annähernd 600 Veröffentlichungen, darunter über 40 Monographien, zu fast allen Bereichen der modernen Gesellschaft.
Der umfangreiche wissenschaftliche Nachlass Luhmanns, den die Universität Bielefeld mit Unterstützung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung sowie des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft erwerben konnte, lässt den Autor und sein Theoriegebäude diesseits seiner publizierten Werke sichtbar werden. Dieser Erkenntniswert gilt insbesondere für das Zentrum seiner Theoriearbeit, den ca. 90.000 Notizzettel umfassenden Zettelkasten. Diese zwischen 1952 und 1997 entstandenen Aufzeichnungen dokumentieren die Theorieentwicklung Luhmanns auf eine einzigartige Weise, so dass man die Sammlung als seine intellektuelle Autobiographie verstehen kann. Darüber hinaus verfügt der Zettelkasten über eine spezifische Ordnungsstruktur, die ihn nicht nur zu der für Luhmann unverzichtbaren Theorieentwicklungs- und Publikationsmaschine werden ließ, sondern auch wissenschaftsgeschichtlich interessant macht. Des weiteren umfasst der Nachlass über 150 nichtpublizierte Manuskripte von teils erheblichem Umfang. Insbesondere die früh entstandenen Texte aus den 1950er und 1960er Jahren zu staats- und verwaltungswissenschaftlichen Themen sowie zu einer phänomenologischen Soziologie lassen die intellektuellen Wurzeln der Luhmannschen Theorie, die im veröffentlichten Werk häufig eher verdeckt worden sind, deutlich werden. Herausragend sind darüber hinaus die vier umfangreichen Versionen der Gesellschaftstheorie, die Luhmann zwischen 1965 und 1990 erstellt hat und die die Entwicklung des Luhmannschen Denk- und Begriffskosmos bis zur 1997 dann von ihm veröffentlichten Textfassung auf exemplarische Weise nachzeichnen. Ähnliches gilt auch für die im Nachlass vorhandenen umfangreichen Vorlesungsskripte zu diversen Themen, die Luhmann nicht nur als Didaktiker sichtbar werden lassen, sondern auch seine Form der ersten Annäherung an neue Forschungsfelder veranschaulichen. Die große Zahl der im Nachlass vorliegenden Vortragsskripten dokumentiert seine rege Vortragstätigkeit. Daneben befinden sich im Nachlass Luhmanns Bibliothek sowie sein Schriftwechsel.
In dem von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste geförderten Langzeitprojekt "Niklas Luhmann – Theorie als Passion. Wissenschaftliche Erschließung und Edition des Nachlasses" (Laufzeit 2015-2030), bei dem die Fakultät für Soziologie in Verbindung mit dem Archiv und der Bibliothek der Universität Bielefeld mit dem Cologne Center for eHumanities (CCeH) der Universität zu Köln kooperiert, wird der wissenschaftliche Nachlass Luhmanns erschlossen. Zu diesem Zweck werden die bewahrenswerten Teile des Nachlasses (Manuskripte, Zettelkasten, Korrespondenz, Bibliothek) zunächst archivarisch gesichert und in Teilen digitalisiert. Die daran anschließende Edition will den Luhmannschen Nachlass als geistesgeschichtliches Dokument der wissenschaftlichen Forschung sowie der interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen. Dazu wird ein Informationsportal aufgebaut, auf dem eine Präsentation aller wissenschaftlich relevanten Bestandteile des Luhmannschen Nachlasses erfolgt. Hinsichtlich der Komplementarität zwischen einem weitgehend netzwerkförmig organisierten Materialbestand und seiner Implementation als technisches Hypertext-System stellt dieser wissenschaftliche Nachlass einen außergewöhnlich gut geeigneten Beispielfall für die entsprechende Aufbereitung komplexer Informationsfelder dar. Dies gilt insbesondere für den Zettelkasten, dessen handschriftliche Notizen transkribiert und in eine edierte, benutzerfreundliche Datenbank überführt werden, die die analog angelegte Vernetzungsstruktur der Sammlung digitalisiert und mit den übrigen Materialien aus dem Nachlass verbindet. Darüber hinaus bietet das Portal durch die Präsentation von Audio- und Videodokumenten sowie eine umfassende Bibliographie weitergehende Informationen zum Werk und seinem Autor. Ergänzend erfolgt im Rahmen des Projekts eine mehrbändige Printpublikation der nachgelassenen Schriften mit den Schwerpunkten Gesellschaftstheorie, phänomenologische Soziologie, Staatslehre, Verwaltung/Organisation und Soziologie der Erziehung.
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Johannes Schmidt