Der wissenschaftliche Nachlass Niklas Luhmanns – ein Überblick

Der wissenschaftliche Nachlass Niklas Luhmanns besteht aus vier Teilbereichen:

1. Zettelkasten
2. Manuskripte/Typoskripte
3. Arbeitsbibliothek
4. Korrespondenz

1. Zettelkasten

Der Zettelkasten ist der zentrale Bestandteil des Nachlasses und spielte auch für die Forschungs- und Publikationstätigkeit Luhmanns eine entscheidende Rolle. Die in ihm enthaltenen Aufzeichnungen entstanden zwischen ca. 1952 und 1997; zuletzt umfasste die Sammlung in 27 Auszügen mit jeweils zwischen 2500 und 3500 Zetteln im DIN-A-6-Format ca. 90.000 undatierte und mit wenigen Ausnahmen handschriftlich beschriebene Zettel. Diese verteilen sich auf zwei weitgehend getrennte Zettelsammlungen:

Der Großteil der Sammlungen (ca. 75.000 Zettel) besteht aus solchen Zetteln, auf denen Luhmann inhaltliche Notizen vorgenommen hat. Außerdem gibt es bibliographische Abteilungen mit ca. 13.000 Eintragungen, mehrere Schlagwortverzeichnisse mit bis zu 244 Zetteln sowie einige Spezialabteilungen.

Eine detaillierte Beschreibung des Inhalts und der Strukturprinzipien des Zettelkastens finden Sie hier.

2. Manuskripte/Typoskripte

Der Nachlass enthält insgesamt ca. 2900 Manuskript- bzw. Typoskriptbestandteile, die ca. 740 verschiedenen Werkeinheiten zugeordnet werden konnten. Dabei handelt es sich um bislang unveröffentlichte Texte sowie (in der Mehrzahl) um Vorstufen zu und Letztfassungen von bereits publizierten Texten. Hinzu kommen 28 teils sehr ausführliche Vorlesungsskripte sowie ca. 540 ein- bis zweiseitige Vortragsskripte.

Der größte Teil der Texte liegt in der Form maschinenschriftlicher Typoskripte vor, häufig in den Vorstufen mit handschriftlichen Ergänzungen; handschriftliche Manuskripte sind die absolute Ausnahme. In der weit überwiegenden Zahl der Fälle sind die Typoskripte nicht datiert. Für einen kleineren Bereich seit Ende der 1980er Jahre liegen zudem die Computerdateien der Texte vor, teilweise in einem Textverarbeitungssystem, das vom Rechenzentrum der Universität Bielefeld entwickelt worden war (EUMEL), ansonsten als Word-Dateien.

Die bislang unveröffentlichten Texte umfassen Monographien, Aufsätze, Rezensionen, Vorlesungen und Vortragsskripte; außerdem liegen einige Arbeitsmappen mit Notizen zu Manuskripten vor.

Ähnlich wie bei der Verzettelung im Zettelkasten arbeitete Luhmann bei der Erstellung seiner Texte mit einem Einschubprinzip: Es wurde von ihm zunächst eine erste (bereits maschinenschriftliche) Fassung erstellt, in der die Fußnoten noch direkt in den Text geschrieben wurden. Diese Fassung wurde dann von der Sekretärin ins Reine geschrieben und an Luhmann zurückgegeben. Es folgte ein zweiter Durchgang durch das Typoskript, bei dem Luhmann entweder handschriftliche Ergänzungen am Rand oder auf der Rückseite hinzufügte. Normalerweise wurden aber ganze ergänzende Passagen oder Abschnitte maschinenschriftlich erstellt und in das vorliegende Manuskript eingelegt und mit einer rot geschriebenen Seitenzahl versehen, die die Seitenzahl der zu ergänzenden Stelle durch einen kleingeschriebenen Buchstaben ergänzte; bei mehreren eingelegten Seiten erfolgte eine zusätzliche alphabetische Durchnummerierung dieser Seiten (2a, 2b). An der Einsatzstelle auf der Vorderseite wurde entsprechend in roter Schrift diese Seitenzahl notiert. Ergänzungen auf den Rückseiten wurden durch ein rot geschriebenes großes R auf der Einsatzstelle auf der Vorderseite bezeichnet. Streichungen von bereits geschriebenen Passagen fanden höchst selten statt: Die Erstfassungen wuchsen durch das skizzierte Einschubverfahren vielmehr ‚nach innen‘, ohne dass die spätere Fassung eine konzeptionelle Revision der ersten Fassung vornahm. Das skizzierte Verfahren der Reinschrift und Erweiterung wiederholte sich in der Regel ein bis maximal drei Mal, so dass spätestens die vierte Fassung die Druckfassung war. Von dieser Regel weichen nur die monographischen Manuskripte aus den 1960er Jahren in Teilen ab.

Zeitlich und thematisch lassen sich die unveröffentlichten Manuskripte folgenden Bereichen zuordnen: Zum einen handelt es sich um größtenteils umfangreiche Texte aus den 1950er bis 1970er Jahren, die Luhmann aus den unterschiedlichsten Gründen nicht fertiggestellt bzw. nach der Fertigstellung nicht publiziert hat. Zum anderen handelt es sich um Manuskripte vornehmlich in Aufsatzstärke aus den 1980er und 1990er Jahren, zu deren endgültigen Fertigstellung bzw. Publikation es insbesondere bei den Typoskripten aus den späteren 1990er Jahren aufgrund seines Todes nicht mehr kam.

Den Schwerpunkt in dem Konvolut bilden die Schriften zur Gesellschaftstheorie, von der vier verschiedene Vorläuferversionen zu der von Luhmann selbst 1997 publizierten „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ im Nachlass vorliegen: 1965-68 (Fragment), 1972-75 (dieses Manuskript ist 2017 aus dem Nachlass unter dem Titel „Systemtheorie der Gesellschaft“ veröffentlicht worden), 1983-90 und 1989-90.

Daneben gibt es Texte zu einer phänomenologischen Grundlegung der Soziologie aus den 1960er Jahren: Neben einigen Aufsätzen einen größeren, aber nicht komplett durchgeführten Entwurf zu einer „Soziologie auf phänomenologischer Grundlage“ aus dem Jahr 1965/66, außerdem ein Manuskript mit dem Titel „Studien zur soziologischen Theorie“ (Fragment).

Ebenfalls aus der frühen Werkphase stammen Texte zum Themenkomplex Staatslehre, Verwaltung und Organisation, die größtenteils bereits in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren entstanden sind. Hier liegt im Nachlass die erste Monographie Luhmanns in Form eines ursprünglich als juristische Dissertation vorgesehenes Manuskripts „Die Organisation beratender Staatsorgane“ von 1955 vor, außerdem der Entwurf einer „Wissenschaft von der Staatslehre“ von Ende der 1950er Jahre und einer „Theorie des neuzeitlichen Staates“ sowie ein Buchprojekt mit dem Titel „Voruntersuchungen zur Staatswissenschaft“ aus den frühen 1960er Jahren (alle fragmentarisch). Daneben gibt es ein umfangreicheres Buchmanuskript mit dem Titel „Allgemeine Theorie der Verwaltung“ von 1964; dieser Text wird durch eine Reihe ähnlich argumentierender Einzelmanuskripte aus den 1960er Jahren ergänzt.

Zum Themenbereich der Erziehung enthält der Nachlass u.a. ein umfangreiches Konvolut von Kapiteln für ein zusammen mit K.E. Schorr geplantes, dann aber nicht realisiertes Buch „Erziehungssystem“ von 1974-76 sowie erste Kapitelentwürfe zu einem Buchprojekt mit dem Titel „Erziehender Unterricht“ von 1985. Neben den Typoskripten enthält der Nachlass zwei umfassende Konvolute mit dem Titel „Notizen zum Erziehungssystem“, die die Zusammenarbeit und den Gedankenaustausch von Schorr und Luhmann dokumentieren.

Außer den genannten Texten enthält der Nachlass eine ganze Reihe von Texten in Aufsatzstärke zur allgemeinen Theorie sowie aus den Bereichen Politik, Religion, Kunst, Wirtschaft. Diese Manuskripte stammen zum Teil aus den 1960er/70er Jahren, zum Teil aus den späten 1980er und den 1990er Jahren.

Im Nachlass befinden sich zudem 28 Vorlesungsskripte Luhmanns, die insbesondere in den 1960er bis 1980er Jahren als weitgehend ausformulierte Texte mit einem Umfang von bis zu 70 Seiten ausgearbeitet wurden. Neben den immer wiederkehrenden Vorlesungen zur Theorie sozialer Systeme und zur Theorie der Gesellschaft finden sich u.a. Skripte der Vorlesungen zur Organisationssoziologie (1968), zu einfachen Sozialsystemen (1969/70), zur Rechtssoziologie (1968/69; 1984/85), zur Soziologie des Erziehungssystems (1980-83) und zur soziokulturellen Evolution (1986/87).

Luhmann ging schon seit den 1960er Jahren einer regen Vortragstätigkeit nach, die durch 539 im Nachlass vorhandene Vortragsskizzen dokumentiert wird, die den Zeitraum von 1966 bis 1996 umfassen. Diese ebenfalls in der Regel maschinenschriftlichen Typoskripte sind fast durchgängig mit dem Ort und dem Datum des Vortrags versehen. Der Umfang der Aufzeichnungen nimmt im Laufe der Jahre ab: während die Vorlagen aus den 1960er Jahren in manchen Fällen noch sehr detailliert ausfallen, reduziert sich der Umfang seit Mitte der 1970er Jahre auf ein bis drei Seiten.

3. Arbeitsbibliothek

Die Arbeitsbibliothek Luhmanns ist vergleichsweise klein, da er größtenteils in Bibliotheken gelesen hat. Sie umfasst ca. 11.100 Titel: 5000 Bücher (Monographien, Sammelbände), 1400 Zeitschriftenhefte, 300 Sonderhefte, 1600 Sonderdrucke, 600 Buchaufsätze und 1500 Zeitschriftenaufsätze in Kopie (alles gerundete Angaben). Die Bücher und Aufsätze weisen in der Regel kaum Anstreichungen oder andere Bearbeitungsvermerke auf, da Luhmann Notizen bei der Lektüre fast immer auf Zetteln vornahm. Neben den von ihm zur Lektüre erworbenen Büchern enthält die Arbeitsbibliothek eine ganze Reihe von unverlangt zugesandten Bänden anderer Autoren sowie Belegexemplare von Verlagen.

4. Korrespondenz

Die Korrespondenz im Nachlass umfasst insgesamt 8966 Konvolute und stammt aus den Jahren 1940 bis 2000. Es finden sich mit wenigen Ausnahmen keine umfassenderen Briefwechsel mit einer Person. In vergleichsweise wenigen Fällen enthält der Nachlass Korrespondenz, in der wissenschaftliche Fragen verhandelt werden; in der Hauptsache handelt es sich vielmehr um Briefwechsel mit Herausgebern, Übersetzern, Zeitschriftenredaktionen, Verlagen, Konferenz- und Vortragsveranstaltern oder wissenschaftlichen Institutionen, in denen eher technische Fragen zu Publikationen, Vorträgen oder Gastdozenturen geklärt werden bzw. um Korrespondenz im Zusammenhang mit der Lehre und Forschung an den Universitäten Münster und Bielefeld oder der Mitarbeit Luhmanns in wissenschaftlichen Kommissionen und Vereinigungen.

Johannes Schmidt