Der umfangreiche wissenschaftliche Nachlass Niklas Luhmanns lässt den Autor und sein Theoriegebäude diesseits seiner publizierten Werke sichtbar werden. Dies gilt insbesondere für das eigentliche Zentrum der Luhmannschen Theoriearbeit: seinen Zettelkasten. Die vermutlich zwischen 1952 und Anfang 1997 entstandenen Aufzeichnungen, mithilfe derer Luhmann die Ergebnisse seiner exzessiven und interdisziplinär breit angelegten Lektüre systematisch organisiert hat, dokumentieren die Theorieentwicklung auf eine einzigartige Weise, so dass man die Sammlung auch als eine intellektuelle Autobiographie verstehen kann. Darüber hinaus verfügt der Zettelkasten über eine spezifische Ordnungsstruktur, die ihn nicht nur zu der für Luhmann unverzichtbaren Theorieentwicklungs- und Publikationsmaschine werden ließ, sondern auch wissenschaftsgeschichtlich interessant macht.
"Kommunikation mit Zettelkästen", so betitelt Luhmann plakativ einen Aufsatz Anfang der 1980er Jahre, in dem er erste Einblicke in seine Zettelkastentechnik gibt. In einer Abteilung (9/8) des Zettelkastens, in der Luhmann über die Zettelkastentechnik selbst reflektiert, bezeichnet er den Zettelkasten einerseits als ein ‚Denkwerkzeug‘, das es ihm erst ermögliche, in einer strukturierten, auf Zusammenhänge hin orientierten, Differenzen einkerbenden Art und Weise zu denken (Zettel 9/8g): „man liest anders, wenn man auf die Möglichkeit der Verzettelung achtet“ (9/8d). Andererseits sei der Zettelkasten ein „Zweitgedächtnis“ (9/8,2), das gerade kein einfaches Wissensarchiv darstelle. Vielmehr sei er eine „Klärgrube“ (9/8,a2), da „[a]lle arbiträren Einfälle, alle Zufälle der Lektüre“ (9/8j) eingebracht werden können, über deren Informationsgehalt erst im Nachhinein und durch die interne Anschlussfähigkeit entschieden werde. Dem korrespondiert eine Ablage der Zettel nach dem „multiple storage“-Prinzip (9/8b2), wobei es wesentlich sei, dass „man nicht auf eine Unmenge von Punkt-für-Punkt Zugriffen angewiesen ist, sondern auf Relationen zwischen Notizen“ (9/8b). Aufgrund seiner Eigenkomplexität könne der Zettelkasten dadurch zu einem „Junior-Partner“ (9/8,1) in einem Kommunikationsprozess werden.
Damit sind die wesentlichen Funktionen des Zettelkastens beschrieben: er ist einerseits ein Arbeits- und Denkinstrument und andererseits ein begrifflich und theoretisch instruierter Zufallsgenerator, der systematisch zu nicht naheliegenden Gedanken führt. Und wohl nicht zufällig harmoniert diese spezifische Technik der Wissensorganisation auf eine besondere Weise mit der Theorie- und Begriffsarchitektur Luhmanns sowie mit dem von ihm präferierten heuristischen Instrument des (funktionalen) Vergleichs, der einen netzwerkartigen Zugriff auf unterschiedliche Wissensbestände von vornherein nahelegt.
Der Zettelkasten, der seit Mitte der 1970er Jahre in Luhmanns Arbeitszimmer in seinem Privathaus in Oerlinghausen stand, umfasste zum Zeitpunkt seines Todes 1998 insgesamt 27 Auszüge: sechs Buchenholzkästen mit jeweils vier Auszügen sowie drei einzelne Karteikästen aus verstärktem Karton, in denen bibliographische Zettel verwahrt wurden. Alle Auszüge waren ohne eine äußere Beschriftung, die Auskunft über den Inhalt des jeweiligen Auszugs hätten geben können.
In jedem der 27 Auszüge befinden sich zwischen 2500 und 3500 handbeschriebene Zettel im DIN-A-6-Format. Um die Zettel lesen zu können, ohne sie aus dem jeweiligen Auszug herausnehmen zu müssen, wurden sie in der Regel nur auf der Vorderseite beschrieben. Da Luhmann den räumlichen Umfang des Kastens gering halten wollte, verwendete er an Stelle von Karteikarten möglichst dünnes Papier – häufig von ihm selbst zugeschnitten aus bereits anderweitig benutzten und deshalb auf der einen Seite bereits beschriebenen bzw. bedruckten DIN-A-4-Seiten, aber auch DIN-A-6-Zettel aus Kalendern oder Notizblöcken, Bankauszüge und Verrechnungsschecks etc. Insgesamt umfasst der Kasten ca. 90.000 undatierte und mit wenigen Ausnahmen handschriftlich beschriebene Zettel, die sich auf zwei weitgehend getrennte Zettelsammlungen verteilen:
Hierbei handelt es sich um eine Sammlung von Notizen, die Luhmann vermutlich zwischen 1952 und 1963 angelegt hat (mit einzelnen späteren Nachträgen; Notizen insbesondere zum Themenkomplex Weltgesellschaft wurden allerdings noch bis ca. 1973 durchweg in diese Sammlung eingestellt). Die insgesamt ca. 23.000 Zettel verteilen sich auf die ersten sieben physischen Auszüge des Kastens sowie auf kleinere Registerabteilungen, die im 17. Auszug der zweiten Sammlung (physischer Auszug 24) stehen. Die Notizen sind im Wesentlichen in der Zeit entstanden, als Luhmann als Rechtsreferendar in Lüneburg bzw. als Regierungsrat im Kultusministerium in Niedersachen gearbeitet hat und dokumentieren seine Lektüre verwaltungs- bzw. staatswissenschaftlicher, philosophischer und zunehmend auch organisationstheoretischer sowie soziologischer Literatur.
Diese Notizen sind in dem Zeitraum von 1963 bis Anfang 1997 erstellt worden, also in der Zeit der auch institutionellen Zugehörigkeit Luhmanns zur Wissenschaft (Verwaltungshochschule Speyer, Sozialforschungsstelle Dortmund, Universität Bielefeld). Diese Sammlung besteht aus 20 Auszügen (physische Auszüge 8 bis 24 des hölzernen Kastens sowie 3 externe Auszüge) mit insgesamt ca. 67.000 Zetteln. Die Notizen sind durch einen nun eindeutig soziologisch-konzeptionellen, theoretisch wie methodologisch kontrollierten Zugriff auf eine große Zahl von Publikationen aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen gekennzeichnet. Theoriehistorisch dürfte der Neuanfang mit der Entwicklung einer Theorie der Verwaltung erfolgt sein; paradigmatisch für den Neuanfang steht die programmatische Formulierung auf dem ersten Zettel dieser Sammlung: „Es muss versucht werden, die Methoden und Begriffe so klar als irgend möglich zu explizieren, damit ihre Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit deutlich wird.“
Bis auf wenige Zettel liegt der Zettelkasten im Nachlass vollständig vor. Inwieweit die Anordnung der Auszüge dem Zustand zum Zeitpunkt des Todes Luhmanns entspricht, ist nicht rekonstruierbar, da bei der Überführung aus seinem Wohnhaus keine genaue Dokumentation der Ordnung des Zettelkastens angefertigt worden ist.
Der Großteil der Sammlungen (ca. 75.000 Zettel) besteht aus solchen Zetteln, auf denen Luhmann inhaltliche Notizen vorgenommen hat. Diese resultieren aus Lektüreergebnissen, dokumentieren aber gleichzeitig die Entwicklung eigener Argumente und Konzepte. Insbesondere im ZK I findet man zudem häufiger am Beginn von Themenblöcken auch eine Auflistung von (zu lesender) Literatur. Luhmann hat bei der Lektüre nicht direkt in den Kasten exzerpiert, sondern die Zettel erst in einem zweiten Schritt auf Basis seiner Lektürenotizen erstellt. Während die Aufzeichnungen insbesondere aus den 1950er und 60er Jahren häufig noch eher fließtextartige und enger am rezipierten Originaltext orientierte Einträge umfassen, die häufig eine Erarbeitung von Wissensständen zu den verschiedenen Themen dokumentieren, werden die Notizen in dem ZK II zunehmend thesenartiger und kompakter.
Aus nutzungstechnischen Gründen befinden sich die Notizen in der Regel nur auf den Vorderseiten der Zettel. Allerdings sind insbesondere im ZK II in einer größeren Zahl von Fällen auch die Rückseiten beschrieben: Bei ca. 150-200 Zetteln pro Auszug besteht ein direkter Bezug zur Zettelvorderseite in Form von Verweisen auf andere Zettel, Literaturverweise, Notizergänzungen etc., die auf der Vorderseite keinen Platz mehr gefunden haben. Bei weiteren 400-500 Zetteln pro Auszug handelt es sich um Einträge ohne inhaltlichen Zusammenhang zur Vorderseite, aber mit einem generellen Bezug zum Zettelkasten: z.B. bibliographische Angaben, Exzerpte und einzelpublikationsbezogene Zettelsammlungen, die aus der Wiederverwendung der leeren Rückseite der zunächst für andere Zwecke genutzten Zettel resultieren. So findet man unsystematisch über den gesamten ZK II verstreut auf den Rückseiten Zetteleinträge mit einer mit „E“ beginnenden Nummerierung, die ansonsten der für die Sammlung typischen Struktur gleicht und die einem rechtsthematischen Projekt aus den 1960er Jahren entstammen dürften (vermutlich dem Speyerer Forschungsprojekt, das zu der Publikation „Öffentlich-rechtliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet“ (1965) geführt hat; diese Sammlung wird im Rahmen des Editionsprojekts digital so weit wie möglich rekonstruiert). Darüber hinaus befinden sich auf diversen weiteren Zettelrückseiten Arbeitsnotizen im Rahmen von Vortrags-, Vorlesungs- und Publikationsvorbereitungen etc., die aber keinen direkten Zusammenhang zum Zettelkasten aufweisen.
Für den ZK I liegen zwei offensichtlich nacheinander angelegte Bibliographien von insgesamt knapp 2000 Titeln vor, bei denen Luhmann die einzelnen Titel nach Autoren alphabetisch geordnet und listenförmig auf ca. 160 Zetteln notiert hat. Diese Verzeichnisse, die in geringem Maße Doppelungen bei einzelnen Titeln aufweisen, stehen im Auszug 17 des ZK II.
Bei dem ZK II ist Luhmann dann vermutlich aus arbeitstechnischen Gründen dazu übergegangen, jede Literaturangabe auf einem separaten Zettel zu notieren. Hier liegen ca. 11.000 Zettel mit entsprechenden Einträgen vor, die sich in den Auszügen 15 bis 17 des ZK II sowie außerhalb des physischen Kastens in drei weiteren Auszügen befinden. Neben den üblichen bibliographischen Angaben (Autor, Jahr, Titel, Ausgabe) finden sich auf den Bibliographiezetteln häufiger auch Bearbeitungsvermerke wie Bibliotheksignaturen, Hinweise auf eine (zu erstellende) Kopie, thematische Stichworte, Verweise auf eigene Publikationsprojekte, für die die notierte Literatur relevant ist und häufiger auch Zettelnummern. Letzteres diente u.a. dazu die Bibliographie selbst als einen möglichen Einstiegspunkt in die Sammlung benutzen zu können. Diese Möglichkeit hat Luhmann aber, obwohl von ihm selbst vorgesehen, nicht systematisch umgesetzt.
Luhmann hat die bibliographischen Angaben des ZK II aber offensichtlich nicht von Anfang an und konsequent in einem separaten bibliographischen Apparat des Zettelkastens abgelegt, sondern vermutlich bis in die 1970er Jahre hinein die zunächst unbeschriebenen Rückseiten der einmal erstellten bibliographischen Angaben nach der Bearbeitung der notierten Literatur dann noch einmal für Zettelnotizen benutzt; entsprechend finden sich auf ca. 7000 Notizzetteln der regulären Sammlung nun auf deren Rückseite bibliographische Angaben, die in keinerlei inhaltlichem Zusammenhang mit der Vorderseite stehen, so dass man insgesamt von ca. 18.000 Literaturzetteln in der Sammlung ausgehen muss (die bibliographischen Angaben auf den Rückseiten von Notizzetteln werden im Rahmen der digitalen Edition transkribiert und in gesonderter Form in die bibliographische Abteilung des digitalen Kastens überführt).
Auf einer nicht unerheblichen Zahl der Zettel der regulären Bibliographie des ZK II befindet sich auf der Rückseite des jeweiligen Bibliographiezettels ein in der Regel nur stichwortartiges Exzerpt zu der entsprechenden Quelle, auf dessen Grundlage Luhmann dann erst die eigentliche Verzettelung vornahm. Bei ausführlicheren Exzerpten legte Luhmann, falls die Rückseite des eigentlichen Bibliographiezettels nicht genügend Platz bot, weitere Exzerptzettel an und notierte in roter Schrift Autor und Jahr.
Aufgrund des Verzichts auf eine festgelegte Ordnung innerhalb der Sammlung und aufgrund der auch praktischen Unmöglichkeit, ein Inhaltverzeichnis anzulegen, da die Sammlung ständig ‚nach innen‘ erweitert wurde (s.u. zum Einstellprinzip), war das Schlagwortregister das zentrale Werkzeug für die Nutzung des Kastens.
Für den ZK I hat Luhmann ein handschriftliches Verzeichnis von Schlagwörtern mit ca. 1250 Einträgen erstellt. In diesem Verzeichnis, das sich im Auszug 17 des ZK II befindet, sind die Schlagwörter auf 73 Notizzetteln (in der Regel sind Vorder- und Rückseite beschrieben) nur alphabetisch grob vorsortiert, innerhalb der jeweiligen Buchstaben stehen die Schlagworte nicht alphabetisch gereiht.
Für den ZK II liegen vier aufeinander aufbauende Versionen eines entsprechenden Registers im Auszug 17 vor, dessen letzte und umfangreichste Version ca. 3200 Einträge aufweist. Während die ersten drei Versionen noch handschriftlich erstellt wurden, erfolgten in der letzten Version aus den 1990er Jahren die Eintragungen maschinenschriftlich (mit einigen wenigen handschriftlichen Nachträgen) auf 244 normalen Karteikarten mit einer auch buchstabenintern detaillierten alphabetischen Sortierung.
Auffällig ist, dass in der Regel bei einem Schlagwort maximal vier Verweisstellen im Kasten aufgeführt waren, also kein Anspruch auf vollständige Erfassung aller für das jeweilige Schlagwort relevanten Zettel erhoben wurde. Hintergrund war die Annahme Luhmanns, dass eine Vollständigkeit der Fundstellen (so wie es bei einem Buchregister üblich ist) nicht nötig sei, da man über die Verweisstruktur der Sammlung selbst (s.u. 3.4) die einschlägigen Zettel(bereiche) über die genannten Ersteinstiege erreichen könne.
Im Auszug 17 des ZK II befindet sich eine Reihe weiterer Zettel anderen Typs. Neben den bereits erwähnten Schlagwortverzeichnissen sowie einem ca. 300 Namen umfassenden Personenregister des ZK II, das pro Namensnennung – ähnlich wie das Schlagwortregister – maximal 3 Fundstellen aufführt, findet man hier eine numerisch (arabisch und römisch) geordnete Liste von Publikationsentwürfen (ca. 600 Zettel) mit Titeln und zum Teil detaillierten Inhaltsverzeichnissen.
Außerdem existiert eine kleine, unbezeichnete Abteilung mit ca. 300 Zetteln, die jeweils rechts oben mit dem Kürzel „VS“ und einer kurzen Zahlenfolge bezeichnet sind und auf denen für die neuere Theorie grundlegende Konzepte notiert sind (vermutlich dürfte sie bei der Vorbereitung der letzten Vorlesung Luhmanns zur Systemtheorie Anfang der 1990er Jahre entstanden sein). Diese Sammlung ist lückenhaft, da eine nicht unerhebliche Zahl dieser Zettel nach der ersten Einstellung in diese Abteilung nachträglich von Luhmann in die eigentliche Zettelsammlung integriert und dort zusätzlich zu der Ursprungsbezeichnung mit einer entsprechenden Zettelnummerierung versehen worden ist. (Auf Basis der digitalen Sicherung der Zettelsammlung wird eine Rekonstruktion dieser Sammlung angestrebt.) Für den ZK I findet sich zudem eine Liste der 108 thematischen Abteilungen, die aber keine Binnendifferenzierung vornimmt.
Die Zettelsammlung ist durch eine besondere Struktur gekennzeichnet. Zunächst findet man eine thematische Grobsortierung, die sich auch in der ersten Nummer des Ordnungssystems niederschlägt (an die sich durch ein Komma (ZK I: 1,1) bzw. einen Schrägstrich (ZK II: 1/1) abgetrennt dann die eigentliche Nummerierung der Zettel anschließt). Im ZK I trägt diese Struktur noch deutlicher die Züge der (individuellen) Erarbeitung von bereits vorher weitgehend festgelegten, voneinander abgegrenzten und relativ kleinteiligen Wissensfeldern und umfasst insgesamt 108 Abteilungen zu verschiedenen Themen und Begriffen (um die umfangreichsten zu nennen: 7 Wert der Organisation, 12 Organisation und Recht, 17 Ideologie, 28 Das Wesen der Organisation grundsätzlich, 32 Methode, Theorie/Praxis-Gegensatz, 45 Autorität, 57 Wissenschaft, 60 Das Zustandekommen von Entscheidungen, 62 Rolle, 76 Kausalität, 83 Leistungssteigerung), deren Umfang zwischen einem und über 4000 Zetteln liegt. Es lässt sich dabei einerseits ein deutlicher Anschluss an staatstheoretische Fragestellungen feststellen, die aber bald durch organisationstheoretische Konzepte überformt und durch Überlegungen zum Wissens- und Wissenschaftsverständnis ergänzt werden. Wie die Auflistung bereits deutlich macht, handelt es sich auch bei dieser Ordnungsstruktur nicht um eine Systematik im strengen Sinne, sie ist vielmehr ein historisches Produkt der Lektüre- und Forschungsinteressen Luhmanns.
Der ZK II weist eine davon deutlich abweichende Struktur mit nur 11 großen Themenblöcken (1 Organisationstheorie, 2 Funktionalismus, 3 Entscheidungstheorie, 4 Amt, 5 Formale/informale Ordnung, 6 Souveränität/Staat, 7 Einzelbegriffe/Einzelprobleme, 8 Wirtschaft, 9 Ad hoc Notizen, 10 Archaische Gesellschaften, 11 Hochkulturen) auf, die zwischen 1000 und 9000 Zettel umfassen. Auch hier ist die Gliederung nicht Ergebnis einer wissenschaftlichen Systematik, sondern ein historisches Produkt der Forschungsinteressen Luhmanns (konkret findet sich die Gliederungsstruktur der Abteilungen 1 bis 5 in weiten Teilen in einem Entwurf zu einer (dann allerdings nicht geschriebenen) „Soziologie der Verwaltungswissenschaft“). Innerhalb der genannten Themenblöcke gibt es dann eine weitergehende thematische Differenzierung mit bis zu vier Unterebenen (ohne dass man sagen kann, dass es sich dabei jeweils um ein strikt hierarchisches bzw. systematisches Verhältnis handelt); abweichend davon ist die Abteilung 7 in 120 listenförmig geordnete, und im Umfang stark differierende Unterabteilungen geordnet (ähnlich wie der ZK I insgesamt).
Die genannten Abteilungen wurden nicht linear durchgeschrieben. Vielmehr führt innerhalb der thematischen Blöcke ein spezifisches Einstell- und Ordnungsprinzip dazu, dass die thematische Erstentscheidung für einen Abteilungstitel nicht zu einer strikt monothematischen Abfolge von Zetteln führt: Findet sich in einer Notiz ein interessanter Nebengedanke, so wird dieser (gleich oder später) weiterverfolgt. Diese zusätzlichen Notizen, die zu einem bereits notierten Gedanken hinzukommen, werden auf einem an dieser Stelle dann einzuschiebenden Zettel notiert; es können auch mehrere Punkte auf einem zunächst erstellten Zettel sein, die dann zu mehreren eingeschobenen Zetteln führen, wie auch dieses Verfahren wiederum auf den eingeschobenen Zettel selbst angewandt werden kann, so dass eine Zettelreihung entsteht, die – linear gelesen – von dem ursprünglichen Thema immer weiter wegführt. Durch diese Ablagetechnik, die sich primär an der rein lokalen Anschlussfähigkeit eines Zettels orientiert, wird nicht nur die zunächst vorhandene Ordnung der Zettelsammlung innerhalb der anfangs themengebundenen Blöcke in Teilen aufgehoben und eine ganz eigene Tiefenstruktur der Sammlung erzeugt (dies gilt insbesondere für den ZK II). Vielmehr werden dadurch auch Notizen zu einem Thema/Begriff an mehreren Stellen in der Sammlung abgelegt, wodurch einerseits ein Thema oder ein Begriff später über verschiedene Zugänge gefunden werden kann und andererseits aufgrund der verschiedenen Kontexte, in die ein Thema eingelassen wird, dann unterschiedliche Informationen erzeugt werden, da die jeweiligen Vergleichshorizonte differieren. Zugleich führt dieses Einstell- und Anschlussprinzip dazu, dass der Standort eines Zettels innerhalb der Sammlung nichts über seinen konzeptionellen bzw. theoretischen Stellenwert aussagt.
Mit der skizzierten Ablagetechnik in einem engen Zusammenhang steht das besondere Nummerierungssystem Luhmanns, das es überhaupt erst erlaubt, Zettel wiederzufinden bzw. gezielt zu adressieren: Jeder Zettel erhält eine Nummer und damit einen festen Standort, der im weiteren Verlauf nicht mehr verändert wird: auf 1,1 folgt 1,2 etc.; ein später erstellter Zettel, der einen einzelnen Aspekt, der auf Zettel 1 notiert ist, weiterverfolgt, wird mit 1,1a nummeriert und zwischen den Zettel 1,1 und 1,2 eingeschoben; daran kann dann wiederum monothematisch 1,1b anschließen oder aber auch eine weitere Verzettelung in Form des Zettels 1,1a1 folgen, der dann zwischen 1,1a und 1,1b eingeschoben wird etc.
1,1 Zettelnotiz
1,1a Anschluss an einen Begriff auf 1,1
1,1a1 Anschluss an einen Begriff auf 1,1a
1,1a2 Fortführung der Zettelnotiz von 1,1a1
1,1a2a Anschluss an 1. Begriff auf 1,1a2
1,1a2b Anschluss an 2. Begriff auf 1,1a2
1,1b Fortführung der Zettelnotiz von 1,1a
1,2 Fortführung der Zettelnotiz von 1,1
Im Extremfall erhält man dann einerseits Zettel mit bis zu 13stelligen Zahlen-/Buchstabenkombinationen und man findet andererseits zwischen zwei ursprünglich direkt nacheinander erstellten, thematisch zusammengehörenden Zetteln eine Vielzahl, im Extremfall mehrere hundert später eingeschobene Zettel, so dass eine lineare Lesbarkeit der Sammlung nicht mehr bzw. nur noch unter erschwerten Bedingungen möglich ist.
Neben der skizzierten Verzettelungsstruktur gibt es ein für die Kreativität des Kastens entscheidendes Verweisungssystem, bei dem Luhmann auf einem Zettel die Nummer eines anderen Zettels (oder mehrerer Zettel) notiert. Aufgrund einer stichprobenartigen Auszählung kann man davon ausgehen, dass sich in dem ZK I ca. 18-20.000 und in dem ZK II ca. 25-28.000 Verweise befinden. Verweise zwischen den beiden Sammlungen sind dagegen nur in vergleichsweise wenigen Fällen vorhanden.
Bei den Verweisen kann man drei Typen unterscheiden:
(a) Einzelverweise: Auf einem Zettel findet sich im Notiztext ein Verweis auf einen anderen Zettel in der Sammlung, der für das behandelte Thema ebenfalls relevant ist. Hier kann man wiederum drei Fälle unterscheiden:
(a1) Verweise auf einen Nebengedanken, der dann auf einem der direkt folgenden Zettel (im Rahmen des oben erläuterten Einstellprinzips) ausgeführt wird. Dieser Nahverweis erfolgt mittels einer rot geschriebenen (einstelligen) Zahl oder einem kleingeschriebenen Buchstaben, die/der sich dann zusätzlich zur eigentlichen Zettelnummerierung auch wieder auf dem verwiesenen Zettel findet.
(a2) Verweise im Rahmen einer Gliederungsstruktur: Hier notiert Luhmann am Beginn eines Themenblocks auf einem Zettel mehrere zu behandelnde Aspekte und markiert diese mit jeweils einem in der Regel in rot geschriebenen Großbuchstaben, der auf einen entsprechend bezeichneten Zettel (bzw. eine Zettelfolge) verweist, der in relativer räumlicher Nähe zu dem Gliederungszettel steht.
(a3) Verweise auf Zettel, die sich an einer anderen Stelle des Kastens und damit dann häufig auch in einem ganz anderen Diskussionskontext wiederfinden. Diese Verweise stehen häufig direkt in dem jeweiligen Notiztext (und setzen dann ein einzelnen Begriffen o.ä. an), manchmal auch am Ende eines Absatzes. Auf dem verwiesenen Zettel findet man häufiger auch einen Rückverweis in der Form, dass Luhmann dort dann ebenfalls die Nummer des Ausgangszettels eingetragen hat (bidirektionaler Verweis). Im ZK I sind die Verweise in der Regel mit Bleistift eingetragen, im ZK II mit dem Schreibgerät, mit dem auch die Notiz selbst erstellt worden ist.
(b) Sammelverweise: Am Beginn eines thematischen Blocks findet man häufig einen Zettel, auf dem auf eine Reihe anderer Zettel in dem Zettelkasten verwiesen wird, die in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem in der Folge behandelten Thema/Begriff stehen. Auf einem solchen Zettel können bis zu 25 Verweise aufgeführt werden, wobei in der Regel jeweils zusätzlich zur Zettelnummer die entsprechenden Begriffe usw. aufgelistet sind. Aufgrund der Schrift und dem verwendeten Schreibutensil ist erkennbar, dass solche Verweiszettel häufig sukzessive ergänzt worden sind. Diese Verweiszettel bieten die Möglichkeit, von einem Punkt aus eine große Menge von Zetteln der Sammlung zu erschließen, die mit einem bestimmten Thema in Zusammenhang stehen.
Die Verweistechnik und hier insbesondere die Fernverweise (a3 und b) reagieren auf den Sachverhalt, dass die Verzettelung aufgrund des Einstellprinzips mit Ordnungs- und Entscheidungsproblemen konfrontiert ist, da es bei Einsortierung eines neu erstellen Zettels häufig keinen eindeutig (systematisch) richtigen Ort gibt, an den der Zettel eingestellt werden kann. Die für dieses Problem gewählte Lösung der lokalen Anschlussrationalität führt entsprechend zu einer unsystematischen Ordnung bzw. dazu, dass ein Thema an verschiedenen Orten des Kastens zu finden ist. Solche Zettelstandorte wie auch thematisch verwandte Bereiche werden dann durch die Querverweise erschlossen.
Vor dem Hintergrund der skizzierten Struktur der Zettelsammlung muss man schließlich auch die Funktion des Schlagwortverzeichnisses verstehen. Der Verzicht auf eine festgelegte Ordnung und konsequenterweise auch auf ein detailliertes Inhaltsverzeichnis macht das Register zu einem zentralen Werkzeug für die Nutzung des Kastens, da nur so Notizen zu einem bestimmten Thema wiedergefunden bzw. die Nutzung des Verweisungsnetzes möglich wird, indem man einen Einstiegspunkt identifizieren und ansteuern kann.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für die Sammlung nicht nur die ursprünglichen Lese- und Notizwege Luhmanns konstitutiv sind, sondern auch die Relationen zwischen den Notizen, die einerseits durch die spezielle Ablagetechnik, andererseits durch die Verweistechnik (selektiv) hergestellt werden. Durch die Differenz von historisch (mehr oder wenig zufällig) angelegter Themenstruktur und mit jedem neuen Eintrag generierter Verweisungsstruktur wird daher im Rahmen einer späteren Anfrage an die Sammlung mehr verfügbar gemacht, als bei der ursprünglichen Notiz intendiert war. Dabei führt das Strukturprinzip der Sammlung dazu, dass der über das Schlagwortverzeichnis gesteuerte Zugriff auf eine begrifflich einschlägige Stelle die Suche gerade nicht auf diesen Begriff limitiert, sondern im Gegenteil aufgrund der spezifischen Einstellpraxis der Zettel und der Verweisungsstruktur der Sammlung ein Netz von Notizen eröffnet, so dass durch die Kombination der Suchanfrage über das Schlagwortregister mit dem Stellprinzip der Zettel und dem Verweisungssystem systematisch der (theoretische bzw. begrifflich kontrollierte) Zufall ins Spiel gebracht wird.
Durch das Multiple-storage-Prinzip und die an Hyperlinks erinnernde Verweisungstechnik simulierte Luhmann trotz der analogen Speichertechnik also schon seit den 1950er Jahren ein modernes, computergestütztes Datenbanksystem. Damit waren die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Zettelkasten mit dem Erreichen einer kritischen Masse von Notizen zunehmend auch als eine Publikationsmaschine fungieren konnte. Zugleich (und vielleicht sogar primär) war die Sammlung für Luhmann aber auch ein Denkwerkzeug. Entsprechend wurde eben nicht (nur) gesichertes Wissen abgelegt, sondern auch ein Prozess der Theoriegenese dokumentiert, inklusive möglicher Irrtümer und Holzwege, die durch spätere Eintragungen revidiert, nicht aber eliminiert wurden, da die ursprünglichen Zettel immer im Kasten verblieben.
Johannes Schmidt